Bewegung vergangener Bilder

Beim Schließen unserer Augen fällt eines auf: die Konturen der erinnerten Situationen verfließen in einer bewegten Unschärfe. Probiert man noch so stark sich an ein ganz bestimmtes Bild zu erinnern, entzieht sich dieses einem sogleich. Als Erinnerungsstütze hilft dabei manchmal eine Fotografie, die zumindest den Fluss der bildlichen Eindrücke auf einen Sekundenbruchteil in einem klaren Rahmen begrenzt hat. Doch so wird es schwer im Nachhinein zu unterscheiden, ob die Erinnerung sich an das Foto anpasst oder aber das Foto die Fußnote der viel komplexeren Erinnerung ist.

In unserem inneren Bildgedächtnis sammeln sich diese Erinnerungs- und Vorstellungsbilder. Ihre kontinuierliche Bewegung und Veränderlichkeit ist wohl ihr Hauptmerkmal; so fasst auch Goethe es in seinem Entwurf zu einer Farbenlehre von 1808 in Worte: “Ich hatte die Gabe wenn ich die Augen schloß und mit niedergesenktem Haupte mir in der Mitte des Sehorgans eine Blume dachte, so verharrte sie nicht einen Augenblick in ihrer ersten Gestalt, sondern legte sich auseinander, und aus ihrem Innern entfalteten sich wieder neue Blumen aus farbigen, auch wohl grünen Blättern; es waren keine natürlichen Blumen, sondern phantastische, jedoch regelmäßig wie die Rosetten der Bildhauer.”

Das fotografische Pendant von Goethes Blumen wären also Bilder die gerade genügend (wieder-) erkennen lassen, sich aber bei genauerem Hinsehen dem betrachtenden Auge in ihrer Vielschichtigkeit entziehen.
Jessica Backhaus hat während ihrer Reise an Orte der Kindheit und Jugendjahre versucht fotografisch Lücken zu schließen, die bis dahin leere Blätter waren in ihrer persönlichen Biografie. Gerade die Durchsichten und Spiegelungen in manchen ihrer Fotografien balancieren auf dem Grad des Enthüllens und gleichzeitigen Verhüllens der Antworten. Gespiegeltes und der Spiegel vereinen sich in der Oberfläche des Bildes. Es ist als ob zwei Räume sich zu einem zusammenfügen: das Hier und Jetzt mit dem Dort und Damals. Vor allem wenn sich das Damals nur mittels Recherchen und durch Erzählungen einzirkeln lässt, so wird ein Festhalten durch den fotografischen Aufzeichnungsprozess fast zur Unmöglichkeit.

Wenn man nicht mit dem leiblichen Vater aufwächst, stellt sich irgendwann die Frage nach den Wurzeln der unbekannten Seite um dem Zirkel des Lebens gedanklich folgen zu können. Denn inwiefern lassen sich Charaktereigenschaften durch äußere Prägung unterscheiden von genetisch weitergegebener Wesensart? Und wenn dem so wäre, wie kann ein spezifisches Handeln auftreten, das zwar letztendlich auf die unbekannte Elternlinie zurückgeht aber beim Auftreten das Bewusstsein dafür nicht vorhanden gewesen sein konnte?
    Wissenschaftliche Forschungen über weitervererbte Erinnerungen und Erfahrungen, welche im Laufe des Lebens entstanden neben der von Geburt an feststehenden DNA-Sequenz, ergeben dass genau dieser Teil unserer Gene schwierig nachvollziehbar ist. Diese Gene funktionieren über Strahlen und Schwingungen, was deren Verhalten nur bruchweise erforschbar macht. Dabei bilden Moleküle in genau diesem DNA-Bereich der Erberinnerung eine Art Kristall, in dem große Mengen an ‚aufgenommener’ Informationen in der Form von zum Beispiel Bildern oder Sprache gespeichert werden.

Durch die wenigen tastbaren Indikationen, die Jessica Backhaus zur Verfügung hatte, orientierte sich ihre Suche zwischen konkreter Information und gefärbter, vager Erinnerung, um somit ihrem inneren Bild von Abstammung und Ursprung Gestalt geben zu können. Im Zusammenhang mit den Fotografien die während dieser Suche entstanden, portraitierte sie diverse gesammelte Dinge aus der Vergangenheit. Jenseits ihrer materiellen Existenz erzählen diese Dinge als Zeitzeugen noch zusätzliche Geschichten, die dem ein oder anderen bekannt vorkommen mögen.
    Gleichzeitig löst sich das Gesehene von seiner ursprünglichen Bedeutung und wird in einem anderen Licht wahrgenommen. Backhaus’ Farben- und Formenspiel lenkt unseren Blick, um den geometrischen (Un-) Regelmäßigkeiten zu folgen, und damit den Regeln des sofort interpretierenden Blickes aus zu weichen. Zeitlebens haben wir gelernt die Augen als Erweiterung des Tastsinns unserer Hände zu verwenden um damit den Dingen die wir wahrnehmen sogleich eine gewisse Größe und Materialbeschaffenheit zuordnen zu können. Durch diese Interpretationsfähigkeit sehen wir ungewollt über eine gewisse Abstraktion (in) der Fotografie hinweg, die durch die bildliche Übersetzung eines dreidimensionalen Raumes bzw. Dinges in eine zweidimensionale Flächigkeit des Fotos entsteht.

Versunken im Muster des gekachelten Badezimmerfußbodens erinnert sich vielleicht so mancher Leser an die wiederholte Suche nach grafischen und geometrischen Zügen auf die man sich als Kind begab. Das gedankliche Weiterzeichnen der bestehenden Fugenlinien zeigt sich auf eine andere Art in den uns vorliegenden Fotografien. Mit ihrem offenen Blick findet Jessica Backhaus bildliche Strukturen, die dem Abgebildeten eine andere Textur verleihen. Die unendliche Elastizität des Gummis wird so zur einzigartigen, statischen Skulptur. Die Reifenspuren werden kartographische Zeichen der Bewegungen im Universum. Das sanfte Bewegliche des Vorhangstoffes skizziert eine klare Gebirgslinie; oder löst sich im selben Moment auf im festgehaltenen Wellengang.
    Eine ganz paradoxale Oberflächentextur entsteht beim Fotografieren von Dingen die sich durch ihre bewegliche Beschaffenheit charakterisieren lassen, wie zum Beispiel der Gummi, der Vorhang oder auch das Wasser. Durch das Festhalten des Augenblickes ist exakt das Gegenteil der Beweglichkeit aufgezeichnet, die sich gerade charakterisiert durch ihre Fähigkeit fortdauernd in unendlichen Metamorphosen zu existieren.
Dem möchte ich noch ein anderes Paradoxon hinzufügen, nämlich die unbegreifliche Eigenschaft des Wassers dass es ein Gedächtnis hat. Wasser besitzt die Fähigkeit sich an Substanzen zu erinnern, denen es ausgesetzt war aber die durch unendliche Verdünnung selbst nicht mehr im Wasser anwesend sind. Die anwesende Abwesenheit ist das einzige Indiz das bleibt. Und auch diese zeichnet sich aus durch ihre nicht greifbare Wesensart.

Die Spuren welche Erfahrungen und Geschichten in unsere Erinnerung graben, sei es in der Form von Molekülkristallen oder innerlicher Vorstellungsbilder bleiben stets in Bewegung. Der Kreislauf eines Menschenlebens genauso wie des Wassers materialisiert und manifestiert sich eine Zeit lang bevor er wieder seine Reise fortsetzt. Ursprung und Ende fügen sich im Jetzt. Die letztendliche Richtung unserer Lebensreise ist uns unbekannt und so verbleiben wir mit dem alleinigen Wissen dass jeder Moment wieder die volle Potenz des Freiheitsgrad (ƒ=6) entfalten kann.
    Dieser Grad bestimmt dass unsere Bewegung in jegliche Richtung möglich ist. Auch die stillstehenden, innehaltenden Fotografien von Jessica Backhaus werden weitergetragen und setzen somit ihren eigenen Weg fort. Rückwärts, wenn sie in die Vergangenheit weisen und vorwärts wenn sie in unser Bildgedächtnis eingehen.






Spuren unserer Väter.

August 2015