
CAO FEI: Universum, Metaversum, Cao-versum
„Sometimes I’m confusing SL and RL. I don’t know where I am,“ chattet China Tracy, das Avatar-Alter Ego von Cao Fei in ihrem Second Life-Dokumentarfilm i.mirror (2007) mit ihrem Gesprächspartner Hug Yue. Sie fragt ihn: „What do you think about the digital world?“ Er antwortet: “It’s one that is dominated by youth, by beauty, and money. And it’s all an illusion.“ Während sie sich durch die virtuellen Welten von Second Life bewegen, setzt sich der getippte Dialog wie ein angenehmer philosophierender Gedankenfluss über Realität, Virtualität, Identität und Emotionen im Untertitel fort. Es löst die Erinnerung an ein Gespräch mit meinem Großvater während seiner psychotischen Depression aus, als er mir die Frage stellte: „Caroline, war das ganze Leben – rundherum – alles eine Illusion?“ Um nach einer längeren Pause fortzufahren: „Alles was passiert ist, auf der ganzen Welt, war ein Traum.“ Worauf ich ihm antwortete: „Ich glaube, dass sehr viel im Leben eine Frage der Wahrnehmung ist. Nicht unbedingt Illusion. Aber Illusion und Wahrnehmung liegen ja ganz nah bei einander.“
In einem aktuellen Interview erwähnt Cao Fei, wie sie während der Zeit als i.mirror entstand, nachts von ihrem Avatar träumte und das Geträumte die Textur der digitalen Welt annahm. Ebenso verwischen sich die Übergänge zwischen virtuellen, physischen und gedanklichen Welten im vielschichtigen Œuvre der Künstlerin. In einer allumfassenden Fluidität entdeckt man zig bildliche Referenzen die sich durch die verschiedenen Arbeiten (Videos, Games, Fotografien, Multimediainstallationen, Skulpturen, Performances, 3D-Filme) der 20 Jahre ihres Schaffens und damit automatisch durch allerlei technologische Entwicklungen schlängeln. Oder besser gesagt „tentakeln“ als Verb, da autonom bewegenden Krakenarme – als Cao Feis Personifikation der Mensch-Maschine – stets als Schlüsselmotive auftauchen: als Unterleib ihres zweiten Avatars Oz, als meterhohe Nylonskulptur Asia One Octopus (2024) oder als Teil ihrer architektonischen Konstruktion Duotopia im Metaversum.
Das Metaversum als virtuelle dauerhafte Parallelwelt, welche die physische und digitale Dimensionen nahtlos miteinander verbindet, ist zentraler Ort von Cao Feis Denken und Handeln. In Meta-mentary (2022) begibt sie sich sogar im Strassenalltag des heutigen Beijings auf die Suche nach dem Metaversum um dabei die begegnenden Personen nach dem Weg zu fragen, dem Potential eines Lebens dort und ob sie auch dorthin gehen wollen? Charakteristische DNA all ihrer Werke ist dabei die kritische Auseinandersetzung mit den impliziten Herausforderungen der Globalisierung, Digitalisierung, Virtualisierung und Urbanisierung. Lineare Erzählstrukturen vereint Cao Fei mit fragmentarischen Einwürfen, autobiografische Elemente ihres Lebens mit geopolitischen Einflüssen und baut so ein komplexes „Cao-versum“. Jegliche mediale Unterscheidung zwischen fotografischen, filmischen oder generierten Bildwelten ist darin genauso irrelevant wie die Frage ob es sich um dokumentarische oder fiktive Bildelemente handelt. Dies zeigt sich sowohl am Beispiel der fiktiven Dokumentation MatryoshkaVerse (2022) über die mongolische Grenzstadt Manzhouli zwischen Chinas und Russlands Interessen als auch anhand Cao Feis umfassendem Rechercheprojekt Hongxia (2015–2019), genannt nach dem Filmtheater aus den 60er Jahren, das sie seit 2015 als Atelier, Wohnort und Projektraum nutzt. Sukzessiv wurde das Theater als Ort und als Thema zum Zentrum ihrer intensiven Auseinandersetzung mit der sozialen, politischen und ökonomischen Geschichte des modernisierenden Chinas. Im gleichnamigen Dokumentarfilm und der enzyklopädischen Publikation HX zeichnet sie, anhand der Biografie dieses Filmtheaters und seiner angrenzenden Stadtviertel, Chinas Modernisierung ab 1950 nach. Diese Hintergründe übersetzte sie in Nova einem Science-Fiction-Film, dessen Astronautenfigur wir zum Beispiel auch im MatryoshkaVerse begegnen. Oder die alten Filmposter, die noch immer die Gänge des Hongxia-Theaters zieren und als zirkulierende Banner in Cao Feis zweiter architektonischer Kreation im Metaversum DUOTOPIA-2nd Edition (2024) vorbeiziehen. So tentakeln sich die Verweise immer weiter.
Seit dem Ende von RMB City (2007–2012), Cao Feis erstem städteplanerischen Gesamtkunstwerk innerhalb von Second Life, das damals ein breites virtuelles Publikum begeisterte, waltet China Tracy nun als Schutzpatronin Chenghuang nach daoistischem Glauben über die Stadt. Cao Fei selbst hat während der Pandemie durch den Tod ihres Stiefvaters und ihrer Schwester von Nahem deren Übergang in die andere Welt durch Rituale des Daoismus begleitet. Dokumentiert in dem Video Still Alive (2023) hallt neben allen ergreifenden Aufnahmen des Abschiednehmens, der wiederholte Satz ihrer Mutter nach: „See you in my dreams, Baba.“ Es sind unsere Träume, an denen wir unseren eigenen Übergang ins Metaversum erkennen werden.