Fotografische Stücke
Eine Bildkritik ohne Bildinhalt? Oder besser gefragt: was zählt zu den bildnerischen Aspekten in diesen von mir ausgewählten skulpturalen Arbeiten, die beide den Raum der Ausstellung Back to the Future und damit meinen Blick bestimmen? Ich höre neben mir die Frage eines kopfschüttelnden anderen Besuchers: “Wo ist denn bitte hier die Fotografie?” Die Fotografie steckt für mich hier in ihrer Wortwörtlichkeit. Lichtempfindlich gemachtes Material, welches durch Licht seine Erscheinung geändert hat. Fotografie pur.
Gesten des Bildermachens
Da vor allem mechanische, elektronische oder chemische Prozesse fotografische Bildinhalte bestimmen, übersehen wir die menschlichen Gesten, die sich auch im Foto (oder ist es hinter dem bzw. um das Werk herum?) verbergen. Die niederländische Künstlerin Gwenneth Boelens (b. 1980) macht die Spuren genau dieser Gesten zu einem Teil ihrer Installation Exposure Piece (Sensitizing) (2010). Der ausgerollte weiße Vinylboden ist beschrieben mit Fußspurstreifen, auf dem das Glasnegativ in seiner stählernen Halterung thront. Während des Präparierens der Kollodium-Nassplatte ist ein Bruchteil der Silbernitratlösung auf dem Bodenbelag gelandet und verrät so Spurenreste menschlicher Bewegungen. Beim Sensitivieren und Entwickeln dieser enormen Glasplatte (127 x 169,5 cm) in den verschiedenen chemischen Bädern assistierten Boelens drei weitere Personen, da es körperlich schier unmöglich gewesen wäre diese Geste alleine auszuführen. Sobald die Glasplatte lichtempfindlich gemacht war, musste Boelens, innerhalb von zehn Minuten, diese noch im feuchten Zustand belichten. Intuitiv richtete sie einen einfachen Lichtstrahl auf die noch nasse Kollodiumplatte und kreierte somit das abstrakte Bild – die Fixierung des puren Lichtes selbst - auf dem ungewöhnlich großen Glasnegativ. Später erst, nachdem das Negativ getrocknet war, belichtete und entwickelte sie die Schwarzweißfotografie, indem sie das Plattennegativ auf das lichtempfindliche Papier legte und Zimmerlicht darauf scheinen ließ.
Die ungewöhnliche Größe der Glasplatte vergrößert nicht nur das Bild, sondern auch die Dimensionen der Gesten und Bewegungen, welche dieses analoge Verfahren von ca. 1850, in sich birgt. Durch die Körperbewegungen auf dem Fußboden (bewusst oder unbewusst, das sei hier dahingestellt) festzuhalten, bringt Boelens den performativen Aspekt des fotografischen Entwicklungsprozesses mit in den Ausstellungsraum. Normalerweise bleiben diese konkreten Gesten und Bewegungen verborgen in der Intimität der Dunkelkammer. Dennoch erschaffen in der analogen Fotografie diese ’unsichtbaren’ Gesten und Entschlüsse ebenso das Bild wie der Fingerknopfdruck und das Auge des Fotografen. Die amerikanische Kunsthistorikerin Margaret Olin erwähnt in ihrem Buch Touching Photographs (2012) die “massierende Geste“ (“massaging gesture“) in der Dunkelkammer als eine der wenigen fotografischen Gesten, die letztendlich im Material des Fotos aufgenommen wird und mitunter das Bild formt. Damit verweist sie auf das sogenannte ’Abwedeln’ (’Dodging’) oder das ’Nachbelichten’ (’Burning’) bei dem bestimmte Bildpartien manuell während des Belichtungsprozesses abgedunkelt bzw. aufgehellt werden; aber auch das sanfte Legen und Herausnehmen der belichteten Fotografie ins bzw. aus dem Entwickler- und Fixierbad. Olin erweitert damit den Begriff der fotografischen Gesten, wie sie etwa auch Vilém Flusser in einem Kapitel seines renommierten Buches Für eine Philosophie der Fotografie (1984) behandelt. Während Flusser sich jedoch auf die Gesten des ’Nehmens’ eines Fotos in der ersten Phase des Fotografierens konzentriert, schließt Olin das ’Machen’ eines Fotos in der zweiten Phase des Entwickelns mit ein. Fotografische Gesten deuten ihrer Meinung nach an, dass fotografische Praktiken nicht nur die Welt in Bildern wiedergeben, sondern aus Fotos Präsenzen oder Anwesenheiten machen, welche die Welt genauso bevölkern wie wir und darin agieren indem sie Menschen miteinander verbinden. („ ( ... ) photographic gestures indicate that photographic practices do more than merely represent the world. Gestures turn photographs into presences that populate the world like people and act within it to connect people” (2012: 14).)
Das Choreografische im Fotografischen
Der Titel Exposure Piece (Sensitizing) mag im ersten Moment an den Objektcharakter dieser Installation denken lassen. Durch Boelens Hinzufügen des Verbes - also der Handlung des Sensitivierens - verschiebt sich dessen Bedeutung. Es kristallisiert sich die Idee einer festgehaltenen Performance, welche über Fotografie und die Räumlichkeit der statischen Installation hinausreicht. Es ist nicht nur ein Stück materialisierter Belichtung, sondern auch ein Stück im choreografischen Sinne, welches uns von der Dynamik des bildschaffenden Prozesses erzählt. Im Gespräch mit Fotografen, die ihre Arbeiten nach wie vor selbst in der Dunkelkammer entwickeln, stellt sich jedes Mal das geübte und gekonnte Miteinander von (sekundengenau und räumlich) festgelegten und wiederholbaren Abläufen bzw. Ordnungen neben improvisatorischen und dabei nicht wiederholbaren, teilweise externen Einflüssen wie Temperatur, Luftfeuchtigkeit oder Härte des Wassers, heraus. Die Choreografie von Exposure Piece (Sensitizing) steht somit nicht nur für sich selbst, sondern versinnbildlicht dieses Zusammenspiel von Licht, lichtempfindlichen Materialien, chemischen Lösungen, menschlichen Gesten und Zeit, die jedem analogen Foto vorangeht. Choreografie trägt in sich die Doppelbedeutung des Schreibens und Bewegens und wird im klassischen Sinne als Aufzeichnung von (Körper-) Aktionen verstanden. Jeder selbstentwickelnde Fotograf kennt also seine Choreografie in der Dunkelkammer, welche im Falle von chromogenen Farbfotos im gänzlich verdunkelten Raum stattfindet um dann in einer blinden und haptischen Akrobatik zu resultieren. Wäre daher eine Begriffserweiterung der Fotografie als Fotochoreografie angemessener? Choreografie existiert ebenso als „Raumschrift mit dem Körper in Bewegung“ (Barthel 2017, 31) und damit nicht nur als deskriptive getanzte Niederschrift, sondern als bewegende Präsenz. Boelens Arbeit kann also in zweierlei Hinsichten verstanden werden: als Skript durch den Schriftzug der Fußkratzer und als Choreografie der im Raum stehenden bzw. liegenden Elemente, welche mit unseren Bewegungen als Besucher eine Neuinszenierung erfahren bzw. aus uns herauslocken. Sowohl in seinen Publikationen über den zeitgenössischen Tanz als auch über soziologische und gesellschaftskritische Themen, verwendet der flämische Kultursoziologe Rudi Laermans einen erweiterten Choreografiebegriff, der losgelöst vom Tanz und der Bewegung des Körpers auch zum Beispiel Assemblagen von heterogenen Materialien als Choreografie versteht. Artefakte werden hier ebenso zu Performern (Barthel 2017, 41-42). Es vermischen sich Performances mit Installationen, menschliche und nicht-menschliche Bewegungen, Materielles und Immaterielles (wie auch Licht und Klang). Zentraler Aspekt und gemeinsamer Nenner jeder Choreografie ist stets der Raum. Allumfassend charakterisiert Laermans daher das Choreografische auch als den „Raum in dem Tanz geschrieben wird.“ (“the space in which dance is written" ) (Laermans 2015, 195)
Raum in dem Fotografie geschrieben wird
Erst Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts kamen Fotopapiere auf den Markt, die wesentlich lichtempfindlicher waren als ihre Vorgänger des 19. Jahrhunderts. Zu diesem Moment erhält die Dunkelkammer Einzug in die fotografische Praxis. Während Schwarzweiß-Papiere und andere historische Verfahren nur auf blaue und blau-grüne Lichtfrequenzen empfindlich reagieren (und somit bei schwachem roten oder amber-farbigen Licht entwickelt werden können), sind chromogene Farbpapiere lichtempfindlich auf alle sichtbaren Lichtfrequenzen und müssen daher in kompletter Dunkelheit belichtet und entwickelt werden. In dem Fall ist weniger das Auge des Fotografen ausschlaggebend als das taktile Handlungswissen seiner Hände.
Ganz im Gegenteil, wurden ab den 1840ern, in der fotografischen Pionierzeit der Daguerreotypie in den urbanen Zentren von Europa und den Vereinigten Staaten, sogenannte ’Glashäuser’ (teilweise auf Häuserdächern) errichtet, um so viel wie möglich Tageslicht für die lange Belichtungszeit zu fangen. Während dieser ’Daguerreomanie’ ließen sich eine Vielzahl von Menschen (wovon drei auch in dieser Ausstellung zu sehen sind) auf der einzigartigen versilberten Kupferplatte verewigen, auch wenn dies ihnen ein 15 bis 20-minütiges Stillsitzen abverlangte. Das verdunkelte Glashaus Structure for Moon Plates and Moon Shards (2015) von dem schwedischen Künstler Johan Österholm (b. 1983) ist in diesem Kontext daher doppelt faszinierend. Zum einen, da die Funktion der Sonnenlicht-durchlässigkeit dieses halben Glashauses durch die bei Mondlicht belichteten und damit schwarz gewordenen Glasplatten nihiliert wird. Die zwei (historischen) fotografischen Räume des Glashauses und der Dunkelkammer werden hier sozusagen vereint. Letztendlich dreht es sich immer um das fangen oder vermeiden von Licht während des fotografischen Aktes.
Zum anderen, weitet Österholm seinen Bewegungsradius, der dieser Arbeit zugrunde liegt, weit über irgendwelche Räumlichkeiten und Zeitrahmen hinaus aus. Die Glasplatten für sein Fotowerk hat er von einem alten Gewächshaus in der Nähe von Lund (nachdem er in dem Jahr zuvor bereits mit Scherben von verlassenen Gewächshäusern am Como See experimentiert hatte). Er präparierte diese Platten dadurch dass er eine Seite säuberte und mit einer Emulsion von lichtempfindlichen Silberverbindungen und Gelatine versah. Zu jedem Vollmond im Jahr 2015, reiste er mit einem Teil dieser lichtempfindlich gemachten Glasplatten aufs südschwedische Land an die dunkelsten Orte. Fern von städtischer Lichtverschmutzung belichtete er bis kurz vor Sonnenaufgang die Scheiben, um dann diese wieder einzupacken, nach Hause zu radeln und in seinem Studio zu fixieren. Die Silbersalze auf der beschichteten Seite reagierten mit dem Mondlicht und verwandelten bzw. reduzierten sich zu Silber, welches die komplette Oberfläche dunkel erscheinen ließ. Wenn also ein ’normales’ Schwarzweißfoto nach dem Belichten im Fixierbad nicht stabilisiert wird, (d.h. die unbelichteten Silbersalze nicht weggewaschen werden), würde jedes Foto bei Tageslicht letztendlich komplett nach- bzw. verdunkeln. Diese Frage stellt sich aber nicht bei Österholm, da er vielmehr danach trachtete das Mondlicht einzufangen und zu materialisieren und nicht abzubilden. Licht macht nicht nur den Bildinhalt, sondern wird hier zum Bildinhalt.
Bewegungen durch Raum und Zeit
Österholm’s Faszination für den Mondzyklus und das alchimistische Einfangen dieses extraterralen Sonnenlichtreflektors gründet unter anderem auf gefundenen Glas-Dias seines Urgroßvaters von Mondphasen in den 1920er und 30er Jahren. Fast ein Jahrhundert später belichtete Österholm Junior Polaroids bei Mondlicht als Kontaktkopien, indem er die historischen Monddias auf das Sofortentwickelpapier montierte. Man kann sich also fragen wer bzw. was die Fotos der Serie Polaroid Lunagrams (2014) gemacht hat? Der Urgroßvater, der Urenkel, das historische Dia-Bild oder das Mondlicht von 2015? Das Polaroid, als zeitgenössisches Augenblicksmaterial, kokettiert hier mit seiner historischen Bildquelle und verweist zugleich auf die Zeitlosigkeit einer Faszination und eines immer wiederkehrenden, generationsübergreifenden, lunaren Zyklus.
Das Herumtragen von fotografischer Ausrüstung auf Expeditionen - schweren Plattenkameras, Stativen, Glasplatten und Chemikalien (vor der Erfindung der Trockenplatte 1871) - gestalten solche Fotos, wie wir sie in der Ausstellung von dem Briten William England (1830-1896) sehen, trotz ihrer bescheidenen Größe als sehr beeindruckend. Man kann sich heute kaum mehr den ganzkörperliche Einsatz und Akt vorstellen, der den Bildinhalten von diesen kleinen Albumine Kontaktabzügen vorausging. Vorort musste England die Kollodium-Nassplatten wahrscheinlich in einem kleinen mitgebrachten Zelt präparieren bevor er sie in seine Stereo-Plattenkamera schob, belichtete, danach entwickelte, trocknen ließ und letztendlich auf die präparierten Albuminen Papiere legte zur Belichtung der Positivbilder (um diese danach auch noch zu entwickeln) wie sie nun eingerahmt hier an der Wand hängen. Wenn man aber den Blick durch das Stereoskop wagen würde, um diese Stereobilder in ihrer Dreidimensionalität zu betrachten, würde man sich vielleicht besser in Englands physische Anwesenheit und Tätigkeit hineinversetzen können. Die Größe der Fotos verschwände in den fotografierten Raumwelten und unsere Präsenz im hier und jetzt würden wir ähnlich wie im verdunkelten Filmsaal vergessen. Der Betrachter wird, in dem Fall, Teil der Brückenlandschaften wie England sie gesehen und erfahren hat. So wie die durch England porträtierten Brücken als menschliches Konstrukt zwei aparte Teile miteinander verbinden, so schlägt das Stereoskop die Brücke zwischen zwei räumlichen und zeitlichen Welten. Wir sehen Vorwärts in die Vergangenheit.
Durch die Performanz, die sowohl in Englands ’Machen’ seiner Fotos innewohnt als auch letztendlich in unserem Betrachten, lösen sich diese Bilder von ihrer zweidimensionalen Fläche und werden (wieder) Teil eines Raumgefüges. Zieht man also eine Linie zwischen William England, Johan Österholm und Gwenneth Boelens, so erfahren wir eine fotochoreografische Wiederbelebung in diesen zeitgenössischen Werken die zu einem ‚Neu-erleben’ historischer Fotografien führen.
Die transversale Bewegung, die in dem Wortspiel ’Zurück in die Zukunft’ mitschwingt, bricht durch alle Zeitschichten und bleibt eine Herausforderung für unser Vorstellungsvermögen je länger wir über diese Bewegung nachdenken. Ein ähnliches Absurdum, das mich immer wieder fasziniert, ist die Annotation von Tanz auf dem Papier, wo Raum, Zeit und Bewegung in der Zweidimensionalität choreografischer Skizzen ausgedrückt wird. Die Linearität des Zeit- und Tanzablaufs im Raum wird zur Gleichzeitigkeit auf dem Papier. Eigentlich ähnlich zum Foto, das uns vor allem zur Wiedererfahrung des fotografischen Stücks verführen sollte.
Barthel, Gitta, Choreografische Praxis: Vermittlung in Tanzkunst und Kultureller Bildung, transcript Verlag: 2017
Laermans, Rudi, Moving Together: Theorizing and Making Contemporary Dance, Valiz Publishers: 2015
Olin, Margaret, Touching Photographs, University of Chicago Press: 2012