Glitch. Die Kunst der Störung
Pinakothek der Moderne, München, 1. Dezember 2023 – 17. März 2024
Mit dem scheinbar unumstößlichen Bilderverständnis, dass technische Bilder vor allem Durchsichten auf die gezeigten Welten „dahinter“ sind, sollten wir nicht erst jetzt in Zeiten von KI auf absolutem Glatteis landen. Tatsächlich gerät dieser Transparenztrugschluss aber erst ins Rutschen, wenn „geglättete Bilder“ – wie Pipilotti Rist diese bezeichnend nennt – aufgeraut, abgelöst, zerstückelt und virtuos weitergewebt werden, wie das in den gezeigten Arbeiten dieser Ausstellung der Fall ist.
The Endless Sandwich (1970/72) von Peter Weibel als alleiniger Auftakt der Ausstellung lässt uns gleich zu Beginn in den Stuhl vor einem klobigen Fernseher gleiten. Zu sehen: eine 50 Jahre alte Schwarzweiß-Videoarbeit, die uns physisch einreiht in eine rekursive Bild-im-Bild, bzw. Fernseher-im-Fernseher Serie mit inerten, uns den Rücken zugeherten Fernsehzuschauern. Bis nach und nach, sukzessiv von „hinten nach vorne“, die Bildschirme zu flimmern beginnen und jeder der Zuschauer (also auch wir) aus der passiven Stuhlposition aufspringt, gefolgt von der frustrierten Geste um die Bildstörung durch ungeduldiges Drehen an Knöpfen oder auch durch ein promptes Hauen auf den Kasten zu beheben. Deutlicher könnte die Aufforderung an uns Betrachter:innen nicht sein, um uns selbst in das Spiel der kritischen Auseinandersetzung mit – nach unserer Meinung – dysfunktionalen Bildflächen zu begeben.
Im ersten Kapitelsaal „Born to Glitch“ eröffnet sich ein Dickicht von eingerahmten fotografischen Oberflächen: Fotofehler auf Papier, wenn es nach dem ausgelegten Standardwerk von Kurt Fritsche aus den 50er Jahren ginge. Oder eben das Gegenteil, denn der „Unfall ist original“ und von Fehlerhaftigkeit keine Rede, spätestens seit Peter Geimers Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen (2010). Diese Wunderkammer „entglittener“ fotografischer Meisterwerke nimmt uns entlang experimentierfreudiger Fotograf:innen und Künstler:innen auf einen Streifzug durch das 20. Jahrhundert mit. Ganz im Sinne des Titels Desastres und andere bare Wunder (1982/84) von Sigmar Polkes gezeigter Serie offenbart sich die Potenz, die in den Materialien der analogen Fotografie steckt: in den Runzeln (Erwin Blumenfeld & Gottfried Jäger), Brüchen (Germaine Krull) und Abschmelzungen (Chargesheimer & Jiang Pengyi) der Gelatineschicht, den geknickten Papierstrukturen (Kilian Breier) oder den Scherben eines Glasnegativs (André Kertész).
Das, was hier bildlich abstrakt erscheint, könnte nicht konkreter sein. Der Prozess und die verschiedenen (chemischen) Zutaten des analogen Bildermachens präsentieren sich selbst, nachdem diese durch künstlerische Experimente herausgefordert wurden. Im Gegenzug fordern diese fotografischen „Chemigramme“ und in den darauffolgenden Sälen die gerenderten Digitalitäten und verzerrten Videobilder bei der Betrachtung unsere eigenen Erwartungen an Bilder heraus. So zeigen uns materialtechnische und algorithmische Logiken die eigentliche Unlogik anthropozentrischen Denkens über (Dys-)Funktionalität auf.
Geglitschte Bilder sind aber keinesfalls als Stil- oder Materialübungen gedacht, sondern verstehen sich als Produkte ethischen Handelns, weswegen immer auch eine Repräsentationskritik mitklingt. Sei es in der Wiedergabe von politischen Konflikten, wie sie Ryoichi Kurokawa in der ergreifenden Videoinstallation ground (2011) oder Broomberg & Chanarin in ihrem bekannten sechs Meter langen Farbfotostreifen der Serie The Day Nobody Died (2008) fühlbar machen. Oder sei es die (fehlende) Präsenz von Genderfluidität in dominanten heteronormativen Bildkulturen, die so sinnbildlich durch Jake Elwes’ Videoloop Queering the Dataset (2019) als unentwegt morphende Deep Fake-Portraitsammlung, basierend auf einem nicht-binären Bilderdatenset, gekontert wird.
Glitch Art und Theorien der Bildstörung als solche sind in Kritikerkreisen etablierter Teil des Diskurses. Nun öffnet die Sammlungsleiterin für Fotografie und Medienkunst Franziska Kunze (mit Assistenz von Katrin Bauer) endlich den Vorhang fürs Ausstellungspublikum in einem die Jahrhunderte und deren Medien übergreifenden Umfang, welcher die bildsubversiven Stimmen und uns zum Schwingen bringt.