/// DIE KÖRPERTEMPERATUR DER FOTOGRAFIE

Ließe man Arākī aus seinem über hunderttausend Bilder zählenden Werk seine Favoriten wählen, so wären es jene drei Fotos, die er jeweils am Totenbett seines Vaters, seiner Mutter und seiner geliebten und leider früh, 1990, verstorbenen Ehefrau Yōko gemacht hat. Es wären also die Fotografien, in denen das Leben selbst sich schon davongeschlichen hat, bevor seine Kamera die menschliche Bewegung zum Stillstand bringt. In dem Sinne sind diese letzten Bilder seine ultimativen Fotos. Nicht nur zeitlich gesehen, da es sich jeweils um die letzte Möglichkeit handelt, die leibliche Anwesenheit der geliebten Angehörigen festzuhalten, bevor diese ganz verschwindet. Zugleich ist es eine einzigartige, ontologische Dopplung des immer als ‚leblos’ charakterisierten Fotos von der leblosen Person. In gewisser Weise gleicht der oder die Verstorbene beim Anblick als ‚leibliches Abbild’ bereits einer Fotografie: die zurückgebliebene, sichtbare Hülle.
    Das Foto hingegen lebt gerade in dem Moment als bildliche Anwesenheit der Abwesenden weiter. Es wird ‚geboren’, wenn es als latentes Bild auf dem Schwarzweißfilm später durch die chemische Entwicklung sichtbar gemacht wird, und zeigt sich der Welt letztendlich in Körpern aus beschichtetem Fotopapier. In einem Interview beschreibt Arākī, dass während dem Prozess des Fotografierens mit einer analogen Fotokamera und des Entwickelns des Films sentimentale Gefühle als eine Art „mysteriöses Geheimnis“ entstehen können. Dies verleiht dem Fotografieren ihm zu Folge einen menschlichen Charakter, weshalb er die digitale Fotografie als Ausdrucksmittel ungeeignet findet. „Im digitalen Bild fühle ich nicht die Körpertemperatur der Person. Es gibt keine Körperlichkeit. Eine Digitalkamera macht aus einem Fotografen einen gefühllosen Roboter.”

Körperlichkeit und Gefühle in Arākīs Werk
Arākī trägt stets eine Kamera am Schulterband, auf Hüfthöhe. So nah am Körper getragen wird sie zu einem integralen Teil seiner Person, als Erweiterung seines Seh- und Tastsinns (neben seinem Sinn für Erotik). Eine ganze Palette von Gefühlen und möglicher Reaktionen stellt sich beim Betrachten seines außerordentlich vielseitigen Œuvres ein: Abscheu, Schock, Zweifel, Verwunderung, Empörung, Erregung, Hingabe, Ergriffenheit, Wehmut, Angst, Liebe, Stille, Kontemplation. Seine Bilder sind hautnahe Aufnahmen dieser Gefühlswallungen. So wie Arākīs Körper selbst die Dinge und Menschen, die er fotografiert, auch berührt hat, so ist er auch emotional von ihnen berührt worden. Es ist dieser Akt des Berührens und Berührtwerdens, dem man als Betrachter seiner Bilder gleichermaßen ausgesetzt ist. Manchmal kommt dies einem auch zu nah. Vor allem als Frau.
    Wir vergessen allzu leicht, dass Fotografie durch und durch haptisch (fühlbar) ist. Die Dominanz des visuellen Bildes verdrängt unsere Aufmerksamkeit für die taktilen Aspekte des Mediums. So schreiben Elspeth H. Brown und Thy Phu 2014 in der Einleitung ihres Buchs Feeling Photography: „Das Berühren von Fotos, ob es die glänzende Oberfläche einer entwickelten Aufnahme selbst ist oder sogar der schützende Rahmen, der dieses Foto umschließt, ist eine unserer wesentlichsten Auseinandersetzungen mit dem Medium, insbesondere da dieser Akt oft begleitet wird von der Empfindung, dass die Motive, die auf dieser Oberfläche abgebildet sind, uns irgendwie ‘zurück’-berühren.”
    Man könnte hier noch den Zeigefinger hinzufügen, der über den Touchscreen gleitet, aber da Arākīs Arbeiten ausschließlich analog entstehen, möchte ich lieber noch einen anderen fundamentalen Aspekt des Taktilen in der Fotografie nennen: Das Bild entsteht nämlich selbst aufgrund von Lichtpartikeln, reflektiert vom fotografierten Motiv, die auf die Gelatineschicht des Films in der Kamera treffen, sie berühren, in sie eindringen und die lichtempfindlichen Silbersalze zu Silber transformieren. Dieser chemische Prozess gründet auf physischer Interaktion, wenn auch in molekularer Dimension. So ist Arākīs Ansicht nachzuvollziehen, dass zwischen dem ‚Fühlwert’ des analogen und des digitalen Fotos Welten liegen. Mika Elo hat 2014 erklärt, wie digitale Technik das Berühren von seinen affektiven (emotionalen) Qualitäten entbindet, indem der Finger zum omnipräsenten Werkzeug zur Berührung von Touchscreens geworden ist. Der emotionale Aspekt der Berührung ist im digitalen Gebrauch somit gänzlich unabhängig vom körperlichen Aspekt. Es ist das festgehaltene, gerahmte Foto einer anmutigen Yōko, das liebkoste Relikt, welches in manchen späteren Fotografien auf Arākīs persönlichen Altären auftaucht.

Fotografische Selbstentblößung
Im Rückblick auf ein Gesamtwerk, das sich über sechs Jahrzehnte erstreckt, setzt sich Arākīs Lebensroman aus einer Vielzahl von Kapiteln zusammen. Jedes davon erzählt eine eigene Geschichte. Stilistisch virtuos mäandert die Form zwischen Fiktion, Poesie und Autobiografie. Dabei greift Arākī immer wieder alte Themen auf und bindet diese in neue Zyklen ein. Seine Verbundenheit mit dem Shishōsetsu, dem spezifisch japanischen Genre des „Ich-Romans“, schimmert durch in den sehr intimen Photoessays seiner Sentimental Journey-Trilogie (1971, 1991, 2010) und in den verschiedenen Büchern über seine Muse Yōko, ist aber auch Basis seines gesamten Schaffens. Im Shishōsetsu steht die reale Person des Schriftstellers im Mittelpunkt und gestaltet die fiktionale Hauptfigur des Ichs grundlegend mit. In kontemplativer Betrachtung und gleichzeitig ungeschönter Selbstaussage gibt der Autor also sein eigenes Leben und die dazugehörenden Emotionen preis. Wir betrachten die intimsten und zärtlichsten Momente zweier Liebender (ihr Blick in seinem Blick), während der Hochzeitsreise von Araki und Yōko, später ihre Krankheit bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie ihre Augen für immer schließt; der trauernde Blick des Zurückgebliebenen in seinen Räumen, zusammen mit ihrer Katze Chiro, der Blick auf unendlich in den vielen Himmelsfragmenten und all dies abwechselnd mit profanen Alltagsansichten. Stets führt Arākī als Autor die Feder oder ist am Auslöser.
    Warum aber haben diese so persönlichen fotografischen Zeilen eine solche Wirkung auf uns, die wir dem Leben von Arākī und Yōko so fern sind? Die Kunsthistorikerin Margaret Olin hat uns eine schöne Erklärung geliefert: Sie argumentiert, dass die Indexikalität der Fotografie weniger in der Verbindung besteht mit der abgebildeten Wirklichkeit, dem Referenten, sondern vielmehr in der Beziehung zwischen dem Foto und seinem Betrachter (e.g. the be-holder), als eine Art ‚Index der Identifikation’, wie sie dies nennt. Jeder sieht beziehungsweise liest die eigene Version von Arākīs Shishōsetsu und knüpft damit an seine eigene Gefühlswelt an.
    Die Selbstentblößung, die zum Genre des Ich-Romans gehört, folgt allerdings genauen Regeln, wie die viel zitierte Japanologin Irmela Hijiya-Kirschnereit analysiert hat. Sie beschreibt es als ein Ritual, in dem Autor und Leser eine gleichberechtigte Rolle spielen und welches nur im kulturellen und sozialen Gefüge (mit den zugehörigen Verhaltenskodexen) verstanden werden kann. Der Leser geht gegenüber dem Autor davon aus, die Wahrheit zu erfahren, geht beim Lesen also von einer gewissen Authentizität aus, wodurch das Gelesene eine gefühlte Unmittelbarkeit erhält – Indexikalität in Worten. Die Popularität dieses literarischen Genres in Japan wird oftmals mit dem Verbot des öffentlichen Voyeurismus in der dortigen Gesellschaft in Verbindung gebracht. Warum aber ist Arākī dann beliebter in unseren Breitengraden als in seinem Heimatland? Obwohl sein Werk, wie er einräumt, eigentlich nur dort wirklich verstanden werden kann?

Schwarzweiß. Leben-und-Tod
Das unmittelbare Nebeneinander von Leben und Tod in Arākīs Werk wird zum natürlichen und engen Miteinander, sobald es im Licht der japanischen Kultur betrachtet wird. Die Aspekte von beiden werden in der japanischen Sprache in einem Wort als Einheit zusammengefasst: 死生観 – Leben-und-Tod. Im Medium Fotografie sehen wir dieses Leben-und-Tod in materialisierter Form. Das ‚positive’ Bild auf dem Fotopapier ist eigentlich die Umkehrung des Filmnegativs. Was dort dunkel war, ist nun hell. Dabei haben die hellen Lichtpartikel das Dunkel der Silberpartikel geschaffen. Ein jedes analoge Schwarzweißfoto behält somit, wie der belgische Philosoph Henri van Lier betont hat, einen typischen „Zweifel zwischen Dunkelheit und Licht, dem Opaken und dem Transparenten, dem Konvexen und dem Konkaven.“ Dem würde ich den Zweifel zwischen Tod und Leben hinzufügen.
    Bei der Bestattung nach buddhistischem Ritus erhalten die Toten in Japan neue Namen, als würden sie unter diesem in der Welt der Toten weiter existieren. In den verschiedenen Bestattungsriten versucht man so die Beziehung zu den vor kurzem noch Lebenden aufzulösen, um eine neue Beziehung zu den Toten zu entwickeln und ihnen damit die Reise ins Jenseits zu ermöglichen. Ist eine Fotografie nicht auch wie ein neuer Name?

Auf die Frage, was sein letztes Bild sein werde, antwortet Arākī: „Ich werde mich selbst im Sarg fotografieren und dabei zum ersten Mal eine Digitalkamera verwenden.“ Es wird sein erstes körperloses Bild sein.